Jenseits der Dualität
Es gibt in uns zwei uralte Kräfte, die uns seit Anbeginn unseres Daseins begleiten – die Angst, die uns in die Erde zwingt, in die Enge unseres Körpers, in das Bewusstsein unserer Vergänglichkeit, und die Liebe, die uns über uns selbst erhebt, uns weit und licht macht, uns an die Möglichkeit erinnert, dass wir mehr sind als unsere Grenzen. Diese beiden Pole, so unvereinbar sie oft scheinen, sind wie zwei Sterne, zwischen denen unser inneres Pendel unablässig schwingt. In meinem Leben war es lange Zeit die Angst, die stärker war, die meine Entscheidungen prägte, die mir die Welt klein und bedrohlich erscheinen ließ. Die Liebe blieb ein ferner Kontinent, kaum greifbar, wie eine Verheißung, die andere kannten, ich aber nur ahnte. Doch irgendwann begann ich, die Linie zu sehen, die beide verbindet, ein unsichtbares Band, das nicht nur diese beiden Gefühle umspannt, sondern auch alles andere, was wir Dualität nennen: Vergangenheit und Zukunft, Licht und Schatten, Nähe und Flucht.
Indem ich diesen inneren Raum erkundete, wuchs in mir die Ahnung, dass es nicht das Ziel ist, sich an einem der beiden Extreme festzuhalten, sondern dass der tiefere Sinn darin liegt, die Mitte zu finden, jenen stillen Punkt, in dem nichts mehr gegeneinander steht. Dort, wo Liebe und Angst, Himmel und Erde, Werden und Vergehen in einer einzigen Präsenz zusammenfließen. Dieser Punkt ist kein starres Gleichgewicht, sondern ein lebendiger Raum, in dem alles sein darf – das Zittern und das Aufblühen, der Zweifel und der Mut, die Sehnsucht und die Hingabe. Wenn ich mir erlaube, genau dort zu verweilen, beginnt etwas in mir zur Ruhe zu kommen. Es ist, als fiele der Zwang ab, mich ständig entscheiden zu müssen, als wäre ich aufgehoben in einem größeren Zusammenhang, in dem nichts verloren geht und nichts bewertet wird.
Und so stehe ich in diesem Zwischenraum, atme, fühle und erkenne, dass hier meine Freiheit wohnt. Eine Freiheit, die nicht aus dem Entweder-oder entsteht, sondern aus dem stillen Wissen, dass ich all diese Gegensätze in mir tragen darf. Hier bin ich verbunden mit mir selbst, spüre Mut und Hingabe, Erdung und Weite, Vergangenheit und Zukunft – und zugleich etwas, das all das übersteigt: den Raum der geheilten Dualität. Er lässt mich einfach sein, ohne Urteil, ohne Anstrengung, ohne Masken. In ihm bin ich zugleich Licht und Schatten, männlich und weiblich, Liebe und Angst – vollkommen und ungeteilt.

„Jenseits der Dualität“
Handgeschöpftes Büttenpapier 21,5 x 21,5 cm,
Bleistift, Tusche-Fineliner, Aquarellstift, Blattgold