Weg der EntTäuschung (V/V)

All das sah ich, obwohl meine Augen geschlossen waren. Der Schmerz, der mich hier begleitet hatte, war verschwunden. An seine Stelle trat tiefe Faszination, und es war, als würde mein freier Geist um dieses wundersame Geschenk kreisen. Von allen Seiten konnte ich genau beobachten, was geschah: Die Wirbel wurden stärker, wie Wasser, das aus einer Badewanne abfließt, und die helle Energie floss von oben nach unten, während der schwarze Strudel von unten nach oben wirbelte. Es schien, als gäbe es im Zentrum, an der Stelle, an der sich die Strudel trafen, einen Nullpunkt – einen Ort der absoluten Stille, an dem alles sich aufzulösen schien.

Nach und nach formten sich die Strudel zu zwei Kugeln. Wie das Symbol der Unendlichkeit, flossen die Energien aus meinem Herzen heraus und wieder zurück hinein – hell und dunkel, in einem ewigen Kreislauf. Ich konnte nicht mehr unterscheiden, wo der Anfang und wo das Ende war, es war ein unaufhörlicher Austausch, der mich in seinen Bann zog.

Lilithra beobachtete das Schauspiel mit stillem Interesse, als würde sie in ein Orakel blicken, das die Geheimnisse der Zukunft offenbart. In der dunklen Kugel begannen sich schemenhafte Gestalten und Fratzen zu formen – Wesen aus einer Welt der Schatten, die einem das Fürchten lehren. In der hellen Kugel hingegen erschienen engelsgleiche Wesen, strahlend vor Licht und erfüllt von einer stillen, erhabenen Kraft.

Leise murmelte Lilithra: „Ein Gratwanderer also, ein Reisender zwischen den Welten.“ Sie drehte sich zu mir, kam ganz nah, so nah, dass ich ihren Atem auf meiner Haut spüren konnte. Ein kalter Schauder überlief mich, und ich öffnete die Augen. Ich blickte in ihre tiefschwarzen, funkelnden Augen, während ihr Atem, der nach fauliger Erde roch, meine Sinne durchdrang.

Jede ihrer Bewegungen war wie ein fließender Tanz unter Wasser – sanft und doch voller Majestät. Behutsam hielt sie mein Herz in ihren Händen, als wäre es etwas Kostbares, das bewahrt werden musste. „Du hattest den Mut, dich mir zu öffnen,“ sprach sie leise, doch ihre Stimme klang wie ein uralter Ruf, der durch die Ewigkeit hallte. „Einen außergewöhnlichen Splitter des kosmischen Herzens trägst du in dir – ein Herz aus Licht und Dunkelheit zu gleichen Teilen. Hättest du diesen Mut nicht bewiesen, hätte ich dich in die Tiefen meines Reiches gezogen. Doch du bist womöglich ein Hoffnungsträger.

„Es gab schon einige wie dich“, flüsterte sie, „die das Potenzial in sich trugen, die hellsten Wesen des Lichts und die dunkelsten Kreaturen der Finsternis zu vereinen. Es ist ein uralter Mythos, eine Legende, dass alles, was getrennt wurde, eines Tages wieder zusammenfinden wird. Doch niemand hat es bisher gewagt, diese übermächtige Aufgabe zu vollenden.“ Ich gebe dir die Chance dich aus meinem Reich zurückzuziehen. Aber merke dir: Wenn sich unsere Wege erneut kreuzen, wird es nicht mehr genügen, mir nur dein Herz zu öffnen.“

Ein geheimnisvolles Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Du machst mich neugierig. Mal sehen, wohin dein Weg dich führen wird.“ Mit äußerster Behutsamkeit schloss sie mein Herz wieder, als wäre es ein Schatz, etwas Kostbares – etwas, das nicht nur mir, sondern auch ihr von Nutzen sein könnte. Mit diesen Worten löste sie sich in einer schwarzen Nebelschwade auf und verschwand in die Leere des Raumes.

Was blieb, war mein pochendes Herz und der Blick zum goldenen Fensterkreuz. Dort, am Horizont, standen Mond und Sonne still nebeneinander, als ob sie auf etwas warteten. Während ich sie betrachtete, formten meine Hände intuitiv eine Schale, die ich vorsichtig unter mein Herz legte.

Diese Geste öffnete mich tiefer, als ich es für möglich gehalten hätte. Meine Hände verwandelten sich in Tore, durch die die Liebe des Schattenreichs strömte, eine mächtige und durchdringende Kraft, die mein Herz und Verstand verschmolzen ließen.

Diese Liebe, die durch mich hindurchströmte, war das göttliche Bindeglied, die unsichtbare Kraft, die das Universum in Bewegung hält. Mein Herz, der Ursprung aller Dinge, pulsierte im Einklang mit dieser unermesslichen Energie.

Weg der EntTäuschung (V/V)
Handgeschöpftes Büttenpapier 21,5 x 21,5 cm,
Bleistift, Tusche-Fineliner, Aquarellstift, Blattgold