Ur-Kraft

Wie jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit, steige ich in die U5 Richtung Königsplatz ein. Vollkommen zugedröhnt von meiner Frühstückspfeife, nehme ich mir einen der wenigen freien Plätze in der Bahn. Die Musik, die aus meinen In-Ears dröhnt, hält jegliches Außengeräusch von mir fern. Doch heute scheint es ungewöhnlich still zu sein. Ich blicke in leere, verängstigte Gesichter. Und auf einmal bricht ein lautes Geschrei in meine kleine heile Welt. Ich scanne das Abteil und will die beängstigende Geräuschquelle ausmachen. Ich stelle meine Musik auf stumm und lausche von Adrenalin gepusht ins Abteil. Kleinlaute Wortfetzen setze ich zu einem Satz zusammen. „Jetzt lassen sie doch den Mensch in Ruhe!“ Und da steht er auf — ein Bär von Mann. Schwankend erscheint er hinter der Trennwand. Deutet mit seiner Pranke in Richtung Fenster und schreit angetrunken. „Wir steigen jetzt aus, dann klatsch ich dich“. Eine zweite Person erscheint hinter dem Bär und spricht mit erhobener Stimme. „Lass ihn in Ruhe.“ Ich merke, wie meine Angst das Blut durch meine Ohren rauschen lässt. Ich will nur noch aussteigen. Weg von diesem beängstigenden Schauplatz der Gewalt. Die Person, die von dem Bär ursprünglich in Bedrängnis gezogen wurde, geht aus dem hinteren Abteil zur Tür. Nächster Halt Theresienstraße. Ahhh, jetzt steigen sie aus und es wird Ruhe einkehren. Ich bin etwas erleichtert.


Der Bär folgt der Person zu Tür und will mit ihr aussteigen. Ja, bitte, ich hab schon genug für heute, denke ich mir und will nur noch meine Musik anmachen. Da bemerke ich, dass die Person, die aussteigen wollte, nur angetäuscht hat und jetzt in meine Richtung geht. „Fuck!“ Ich hab doch nur noch eine Station zu fahren und jetzt das. Die Person setzt sich eine Bankreihe schräg vor mir nieder, mit dem Blick zu mir. Der Bär folgt ihr und setzt sich seiner Beute gegenüber. Ich betrachte den Koloss von hinten und falle noch ein Stück mehr in mich zusammen. Jetzt wird der Bär auch noch handgreiflich. Ich blicke in die Runde und alle Personen um mich herum sind erstarrt vor Angst. Keiner erhebt Einspruch, keiner will dem Geschehen ein Ende setzten. Dann schaue ich in Richtung der Person, die in höchster Bedrängnis steckt. Es trifft mich ein um Hilfe flehender Blick, der mich tief durchdringt. Die U-Bahn fährt am Königsplatz ein.


Meine Haltestelle und ich treffe eine Entscheidung – Der Bär steigt mit mir aus. Die Bahn bremst langsam ab und ich stehe auf. Trete von hinten an den Tyrann heran und packe ihn am Kragen. Er dreht seinen Kopf etwas irritiert zu mir. Mit fester Stimme sage ich: „Wir steigen hier aus!!“ Ich ziehe mit all meiner Kraft an dem Fleischberg, doch er rührt sich keinen Millimeter. Mit meinem Gedanken „Oh mein Gott!“ blicke ich in meine unmittelbare Umgebung. Ein Augenpaar schräg vor mir signalisiert mir, auch er ist bereit, etwas zu tun. Die Person schlüpft an mir vorbei, packt den Bär am Arm und gemeinsam ziehen wir ihn hoch. Alles geschieht in Bruchteilen von Sekunden. Zu dritt drehen wir uns in den Bereich der Türen und trippeln ein paar Kreise. Ich fokussiere den Griff und öffne die Tür. Wir drehen uns raus auf den Bahnsteig. Bevor der Bär sich versieht, zurück ins Abteil will, versperrt die helfende Hand mit all ihrer Präsenz den Türbereich. Nun mache ich den wildgewordenen Bär auf mich aufmerksam. Weg von seiner Beute, soll er mich als neues Opfer sehen. Er stürmt auf mich los, ich drehe mich um und laufe was das Zeug hält. Im Treppenhaus höre ich noch seine röhrende Stimme. „Komm zurück, ich bring dich um.“ An der Oberfläche angekommen, laufe ich noch ein Stück. Mein ganzer Körper zittert. Ich halte inne und denke mir, wow, was für eine Kraft durch eine mutige Entscheidung freigesetzt werden kann.

Ur-Kraft
Handgeschöpftes Büttenpapier 21,5 x 21,5 cm,
Bleistift, Tusche-Fineliner, Aquarellstift, Acrylfarbe, Blattgold, Bernstein